Katholischer Krankenhausverband Deutschlands e.V.

kkvd im Gespräch: “Mauern einreißen führt noch nicht zur Einheit”

20.05.2021 – Auf keiner Liste zu den Lehren aus der Pandemie fehlt der Vorschlag, mehr Sektoren übergreifende Versorgungsnetze zu knüpfen. Welche Ansätze gibt es dafür schon? Wo sind Hürden, wo die Potenziale? kkvd aktuell sprach mit Eckhard Starke, dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen, und mit Jens Gabriel, Geschäftsführer des St. Josefs-Hospitals (JoHo) Rheingau in Rüdesheim. Das Interview erschien in der Ausgabe 01/2021 von kkvd aktuell Ende April 2021.

Herr Gabriel, der JoHo-Verbund verfolgt seit mehreren Jahren eine Ambulantisierungsstrategie. Wie kam es dazu?

Jens Gabriel: Wir sind ein regionaler Krankenhausverbund mit drei stationären Akuthäusern – die Vernetzung ist Teil unserer DNA: Wir glauben an eine funktionierende Netzwerkmedizin, verbundintern und vor Ort auf der lokalen ambulanten  Versorgungsebene. Im Rheingau gibt es 80 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte und ein Krankenhaus der Grund- und Notfallmedizin. Um die Versorgung in dieser ländlichen Region sicherzustellen, sind Vernetzung und Ambulantisierung unerlässlich. Natürlich gibt es dabei Mauern und Hürden – spätestens das Finanzierungssystem setzt uns Grenzen. Doch Fakt ist, rund 30 Prozent unseres stationären Leistungsspektrums werden irgendwann ins ambulante Setting hinüberwechseln. Und darauf brauchen wir Antworten.

30 Prozent des Leistungsspektrums wandern in den ambulanten Bereich. Macht Ihnen das Sorge, Herr Starke?

Eckhard Starke: Wir leben in einer ganz anderen Zeit als vor 25 Jahren, als bestimmte Leistungen den Krankenhäusern fest zugeordnet waren. Das hat sich zunehmend gelockert und ist auch zum Vorteil der Patientinnen und Patienten. Wer liegt schon gerne lange im Krankenhaus? Daher ist wichtig, hier eine enge Verbindung zu schaffen. Ich hatte für meine Hausarztpraxis Räume im Ketteler-Krankenhaus in Offenbach gemietet, die direkt neben der Notaufnahme lagen. Wir hatten die Vereinbarung, dass die Notaufnahme Patienten ohne Einweisung zunächst in meine Praxis weiterreicht. Die Patienten haben nicht gemerkt, dass sie die Versorgungsebene wechselten. Wenn sie ein Fall für die stationäre Versorgung waren, habe ich sie zurückgeschickt. Aber die meisten hatten keine stationäre Behandlungsnotwendigkeit. So etwas brauchen wir mehr in der Zukunft.

Jens Gabriel ist Geschäftsführer des St. Josefs-Hospital Rheingau in Rüdesheim (Bild: JoHo Rheingau)

Jens Gabriel: Den Aspekt mit der Notfallambulanz im Krankenhaus sehen wir ähnlich. Wir können uns jedoch dem Strom der Patienten, die direkt das Krankenhaus ansteuern, nicht entziehen. Bisher wurde in Hessen mit Portalpraxen gegengesteuert, einer absolut sinnvollen Institution. Der „gemeinsame Tresen“ in Frankfurt-Höchst ist ein gutes Beispiel, wie solche Pilotprojekte angeschoben werden. Dafür braucht es natürlich Vertrauen und vor allem flexible Organisationsstrukturen, die eine intersektorale Zusammenarbeit ermöglichen. Bei Letzterem sind die Mauern jedoch leider noch am höchsten.

Eckhard Starke: Das Höchster Modell haben wir mittlerweile weiterentwickelt, indem wir die Notfallplattform Ivena öffnen. So kann nicht nur die Disposition der KV, sondern auch der Rettungsdienst und das Krankenhaus sehen, welche ambulante Einrichtung gerade verfügbar ist. Wir wollen eine ambulante Notfallversorgung schaffen, die für Transparenz sorgt und alle ins Boot holt. Mit etwas Sorge sehe ich aber die Debatte über die Mauern zwischen klinischer und stationärer Versorgung. In Deutschland kennen wir uns mit Mauern aus und wissen, dass deren Einreißen noch nicht zur Einheit führt. Wir brauchen mehr Modellversuche, die zeigen: So arbeitet eine klinische Einrichtung sehr eng mit der ambulanten Versorgung zusammen.

Im Rheingau gibt es bereits sektorenübergreifende Modellprojekte. Wie sieht das konkret aus?

Jens Gabriel: Bereits im Jahr 2017 hat die Bundesregierung den Krankenhäusern ein stationäres Entlassmanagement auferlegt. Dieses greift jedoch zu kurz, da es genau am Punkt der Überleitung in den ambulanten Sektor zu Informationslücken kommt. Daher haben wir unsere Dokumentation umstrukturiert mit dem Ziel, Versorgungsbrüche nach der Krankenhausentlassung zu vermeiden. Wir sprachen mit dem regionalen Ärztenetzwerk darüber, welche Informationen die Mitgliedspraxen direkt brauchen, beispielsweise: Wurde eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, eine Physiotherapie verordnet, oder ist das Pflegebett bestellt? Diese Informationen erhält die niedergelassene Ärztin nun einen Tag vor der Entlassung des Patienten direkt aus dem Krankenhaus, damit sie sich ein genaues Bild machen kann. Dieses Projekt hat sehr viel Vertrauen zwischen den Leistungserbringern geschaffen und zu einer einzigartigen Zusammenarbeit in der Region geführt.

Wie viel Steuerung aus der Politik ist nötig, damit solche Netze vor Ort wachsen?

Jens Gabriel: Es muss natürlich eine Rahmengesetzgebung geben, ganz klar. Aber ich sehe das eher im Zuge einer gelenkten Evolution, die die „Leitplanken“ schafft. Die Regionen werden sich dahingehend unterschiedlich aufstellen. Zentralisierung hat in der Gesundheitsversorgung meist nicht funktioniert. Wir müssen weiterhin an regionalen Lösungen arbeiten.

Dr. Eckhard Starke ist stv. Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (Bild: KV Hessen)

Eckhard Starke: Man muss natürlich wissen, wie die Politik tickt. Klar ist, die Politik hat keine praktischen Erfahrungen. Wenn ich ein Auto kaufe, gehe ich dazu ja auch nicht zum Bäcker. Daher müssen wir der Politik mit funktionsfähigen Modellen zeigen, wie es geht. Dann kann sie sagen: So machen wir das. Nur sollten wir uns nicht im Vorfeld streiten und der Politik damit das Gefühl geben, „die einigen sich sowieso nicht“.

Es heißt bisweilen, kleine Kliniken wie das JoHo Rheingau mit seinen 150 Betten werden künftig nicht mehr gebraucht. Wie denken Sie darüber?

Jens Gabriel: Dem muss ich eindeutig widersprechen – spätestens in Zeiten der Pandemie wurde klar, dass wir kleinere Krankenhäuser, ins besondere als Teil unserer Daseinsvorsorge, brauchen. Wir müssen endlich darüber sprechen, was uns die Gesundheitsversorgung in der Fläche wert ist. Was die Politik derzeit diskutiert, ist ein kalter Krankenhaus-Abbau unter dem Deckmantel von Qualitätsvorgaben und gesetzlichen Restriktionen.

Eckhard Starke: Wir brauchen kleine Kliniken, weil es in Zukunft immer mehr ältere Menschen gibt. Wenn ich einer Patientin, die in die Herzinsuffizienz rutscht, für zu Hause die notwendige Dosis der Entwässerung gebe, dann wird diese Patientin nicht schnell genug auf die Toilette kommen. Diese Patientin braucht keine umfangreiche Diagnostik, sie braucht drei Tage intensive Therapie unter qualifizierter Kurzzeitpflege. Hier müssen wir den Schwerpunkt der kleinen Häuser sehen, sehr eng vernetzt mit den Vertragsärzten. Aber es wird nicht in jeder kleinen Klinik die Technik vorrätig und mit Fachpersonal besetzt sein können, die wir in Zukunft haben werden. Wir müssen uns im Klaren sein, welche Aufgaben ein Maximalversorger hat und welche Aufgaben kleine Häuser haben.

Digitalisierung: Wo sehen Sie Handlungsbedarf und Strategien?

Eckhard Starke: Die Schnittstellen müssen geöffnet werden! Wir haben im ambulanten und stationären Bereich unterschiedliche Softwaresysteme. Gerade in einer Zeit, in der die Digitalisierung nicht mehr wegzudenken ist, müssen wir uns digital besser vernetzen können. Hier tut sich Deutschland leider sehr schwer. In Höchst mussten anfangs am gemeinsamen Tresen zwei Computer stehen, einer für die Vertragsärzte und einer für die Klinik. Aber das haben wir inzwischen hingekriegt.

Jens Gabriel: Für den JoHo-Verbund haben wir eine klare, konsistente Digitalstrategie erarbeitet, die sich auf drei Kernbereiche konzentriert: interne Betriebsprozesse, zielgruppenorientierte Kommunikation und Kooperationsmanagement. Beispielsweise beschäftigen wir uns so seit 2016 unter anderem mit dem Thema Televisite. Wir haben uns zunächst in unserem Verbund per Videokonferenz vernetzt. Was gut stationär–stationär funktionierte, haben wir dann auch auf den ambulanten Bereich ausgedehnt. Heute gibt es 42 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die sich live zu uns ins Krankenhaus für eine Fallkonferenz aufschalten können. Für eine solide Strategie ist es wichtig, seine Ziele und Grenzen zu definieren: Wo fängt Digitalisierung an, und wo hört sie auf? Uns ist es wichtig, Patienten- und Zuweiserbindungen zu stärken beziehungsweise auszubauen, Mitarbeitende in ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen und Arbeitsprozesse zu vereinfachen. Es muss ein klar erkennbarer Nutzen dabei entstehen. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz haben wir eine hervorragende Chance, die Digitalisierung im Krankenhaus voranzutreiben.

Dieses Interview stammt aus dem Verbandsmagazin “kkvd aktuell” Ausgabe 01/2021. Das vollständige Heft gibt es hier als Download im PDF-Format